/Detelina Kamenova, Öffentlichkeitsarbeit, Internationale Elias Canetti Gesellschaft, Journalistin/

/Rayna Breuer, Autorin von “Block 317″/

Rayna Breuer ist die diesjährige Entdeckung der Internationalen Elias Canetti Gesellschaft. Am 5. Oktober kam sie nach Ruse, um am Festival “Der Atem Europas” teilzunehmen. Dies ist ihr erster Auftritt bei einem Literaturfestival in Bulgarien und ihr erster veröffentlichter Roman “Block 317”. Rayna Breuer gab ein Interview speziell für das Festival.

  • Was, glauben Sie, gibt einem Literaturfestival die Kraft, 15 Jahre in Folge zu überleben?

Die Hartnäckigkeit der Menschen, die hinter dem Festival stehen. Wenn sie nicht hartnäckig wären, wären wir AutorInnen nicht in der Lage zu lesen, mit dem Publikum in Kontakt zu treten, aus unserer Blase herauszukommen. Es gibt sicher 1001 Gründe zu sagen: Bis jetzt. Nicht mehr. Sei es wegen finanzieller oder anderer Schwierigkeiten, wie z.B. regulatorische Normen (z.B. Covid) und andere. Aber solange der Wunsch und die Beharrlichkeit stärker sind als die Hindernisse, wird es Festivals wie das in Ruse geben. Ein Publikum findet sich meiner Meinung nach immer. Die Menschen wollen lesen. Ich glaube sogar, dass die Ermüdung der sozialen Medien spürbar ist, und ich hoffe, dass die Menschen zu Büchern und langen Lektüren zurückkehren werden.

  • Was wissen Sie im Besonderen über das von der Internationalen Elias Canetti Gesellschaft organisierte Festival und welchen Platz nimmt es unter den anderen Literaturfestivals in Europa und Bulgarien ein?

Ich halte Festivals wie das in Ruse aus zwei Gründen für äußerst wichtig.
Ja, wir alle wollen unser Buch in Wien, Frankfurt oder London vorstellen. Ja, es ist schön dort, es gibt ein Publikum, die Säle sind voll. Aber diese Festivals sind so riesig, dass man – ob Besucher, Autor oder Verleger – im Meer der Bücher untergeht. So sehr ich die Lesung auf der Wiener Buchmesse auch genossen habe, finde ich, dass die Interaktion mit dem Publikum auf solchen kleineren Festivals direkter, emotionaler, natürlicher und persönlicher ist.
Ich war noch nie auf dem Literaturfestival in Ruse, deshalb kann ich im Moment nur sagen, dass ich sehr froh bin, eingeladen worden zu sein, und ich bin sehr dankbar für die professionelle Kommunikation und Organisation der Vorbereitungen. Ich freue mich auf die Begegnung mit dem Publikum und den Besuch in Ruse.

  • Warum muss ein Schriftsteller, ein Dichter, ein Künstler überhaupt live mit einem Publikum zusammentreffen und auf Festivals präsentiert werden?

Weil Schreiben keine Einbahnstraße ist – das Publikum ist unser Korrektiv, unser Spiegel, es ist unser ehrlicher Kritiker. Ich könnte nicht nur für mich selbst schreiben, oder nur, weil ich das Gefühl habe, etwas sagen zu müssen. Wenn das so ist, kann ich genauso gut ein persönliches Tagebuch schreiben. Nein, ich möchte einen Dialog mit dem Publikum. Und gerade in der heutigen Zeit ist der Dialog sehr, sehr wichtig. Und deshalb sind Festivals wie dieses so ausschlaggebend, um einen Ort der Begegnung zu haben, einen Ort, an dem man mit den Menschen interagieren kann, um den Kontakt nicht abreißen zu lassen.

  • Was erwarten Sie von den Live-Treffen mit dem Publikum in Ruse?

Dies wird mein erstes Treffen mit einem bulgarischen Publikum sein. Mein Buch ist letztes Jahr auf Deutsch erschienen. Ich bin dem Elias Canetti Verlag sehr dankbar, dass er einige Kapitel übersetzt hat, so dass ich sie dem bulgarischen Publikum vorstellen kann. Ich muss zugeben, dass ich sehr aufgeregt bin. Schließlich ist dies mein erstes Buch. Ich war überrascht, dass das Interesse in Deutschland und Österreich für meine bescheidenen Erwartungen sehr groß war. Ich dachte, ich schreibe es nur für die bulgarische Gemeinschaft in Deutschland, für diejenigen, die verstehen und fühlen können, was ich schreibe, für diejenigen, die es erlebt haben, aber es stellte sich heraus, dass auch die Deutschen neugierig waren, was in den 1990er Jahren in Bulgarien geschah und wie die Menschen damals lebten. Die Begegnung mit dem bulgarischen Publikum wird anders sein, sie wissen, was in den 90er Jahren passiert ist. Die große Frage wird nun sein, ob sie dieselben Erinnerungen haben, dieselbe Interpretation – und das ist es, was mich interessiert. Ich möchte herausfinden, wie bereit wir sind, über die Vergangenheit zu sprechen, WIE wir über die Vergangenheit sprechen, ob wir mit dem Finger auf jemanden zeigen und auf wen. Was haben wir in den letzten 20 bis 30 Jahren gelernt, das uns in der Schule nicht beigebracht wurde? Sind wir dazu bereit? Einige meiner Figuren in dem Buch sind noch nicht so weit, andere schon. Ich persönlich habe Jahre gebraucht, um herauszufinden, was es war.

  • Was sollte das Publikum von einer Begegnung mit Ihnen erwarten?

Was ich mit meinem Buch erreichen wollte, ist, durch Humor die Grundlage für einen Dialog zu schaffen. Ich hoffe, es ist mir gelungen – das Publikum wird es beurteilen. Mit diesem Buch in der Hand möchte ich ein Gespräch mit der Generation meiner Großeltern führen, die jetzt nicht mehr leben, mit der Generation meiner Eltern und mit meiner Generation – in Deutschland gibt es den Begriff der Nachwendekinder, das sind die, die um 1989 geboren wurden. Jede Generation ist ihren eigenen Weg gegangen, hat Fehler gemacht, und ich möchte wissen, ob wir bereit sind, miteinander zu reden und über unser Handeln nachzudenken. Das heißt, kurz gesagt: Ich möchte einen Dialog, was heutzutage wieder zunehmend schwieriger wird. Aber mit ein bisschen Humor ist es vielleicht leichter zu reden.

  • Wo findet sich mehr Raum für künstlerische Interpretation – im realen Leben oder in den sozialen Medien?

Ich persönlich lasse mich vom wirklichen Leben inspirieren, von der Begegnung mit verschiedenen Menschen, von ihren Geschichten…. Da sind die echten Gefühle, da ist das Leben. Die sozialen Medien werden mehr und mehr zu einem Irrgarten ohne Ausweg. Wenn man keine Orientierung hat, verliert man immer leichter seinen Kompass. Und das macht mir Sorgen.

  • Wie sehen Sie die geografischen Grenzen heute, wo die Welt Erschütterungen anderer Art erlebt?

Dies ist eine schwierige Frage, die viele Facetten hat. Ich würde es so ausdrücken: Das Wort geografische Grenzen gibt es für mich nicht – dank Europa. Das Privileg, die Welt zu bereisen, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, neue Kulturen kennen zu lernen, ist ein ungeheurer Reichtum, den man sich erkämpft hat, der aber nicht ewig währt und den wir auch verstehen müssen. Was mich mehr beunruhigt, sind nicht die geografischen Grenzen, sondern die Grenzen, die sich in unseren Köpfen zu bilden beginnen und uns blockieren.