Deskriptionen religiöser, politischer und wissenschaftlicher Ordnungskonzepte

Zu Ehren des im bulgarischen Russe geborenen Elias Canetti, dessen Geburtstag sich im Jahr 2015 zum 110 Mal jährt, veranstaltet die Österreich Bibliothek Sofia in Kooperation mit der Internationalen Canetti Gesellschaft eine zweitägige Konferenz (6.–7. März), in deren Mittelpunkt die Leitfrage steht, welche Spuren die vielfältigen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Schriften dieses weltbekannten Autors hinterlassen haben. Bereits aus künstlerischer Perspektive erscheint Canetti insofern als Zeitgenosse einer im Wandel begriffenen Zeit, als er die klassischen Vermittlungs- und Darstellungsverfahren nicht nur infrage stellte, sondern die Gattungen des Romans und der Tragödie narratologisch bzw. dramaturgisch neu definierte, letztere hin zur Tragikomödie, erstere hin zum Universalroman. Und auch in anderer Hinsicht zeigt sich Canetti als Mensch seiner Zeit, indem er vonseiten der deutschen Literaturkritik in einem ersten Schritt tabuisiert und in einem zweiten auf eine zuweilen zeitgeschichtlich undifferenzierte Weise rezipiert wurde. Der quantitative Aspekt dieses literaturgeschichtlichen Mangels, der mit der Rezeption der Blendung exemplarisch belegt ist, bildet im Falle unserer Zusammenkunft notwendigerweise den Ausgangspunkt einer weiterführenden, qualitativ präzisierenden Bestandsaufnahme. Hiervon leitet sich unumgänglich die Frage ab, welche Formen der Anbindung seiner Schriften – sei es auf affirmative oder negativistische Weise – an die im frühen 20. Jahrhundert aktuellen Ordnungskonzepte aus Religion, Politik und Wissenschaft auszumachen sind. Auf der Grundlage etwaiger Spuren, die von den großen Kulturimagines seiner Zeit herrühren, wird im Kontext der Tabuisierung auch die ethische Zugehörigkeit Canettis zu betrachten sein.

Religion: Canetti, der einer jüdischen Familie entstammte, nimmt vor allem in seinem autobiografischen Zyklus, hierin vornehmlich in Die gerettete Zunge als erstem Teil, auf seine jüdische Herkunft Bezug, nämlich unter eindrücklicher Beschreibung der antisemitischen Stimmungen, deren Zeuge er in jungen Jahren im deutschsprachigen Raum wurde. Ausgehend von dieser Beschreibung seiner sozialen Entfremdung und Separation, die sich innerhalb der Gattung der Biografie vollzieht, stellt sich die weiterführende Frage, ob der staatspolitische bzw. gesellschaftliche Missstand der Minderheitenfeindschaft, die schließlich zur Jüdischen Katastrophe führte, über die verschriftlichte Lebensgeschichte hinaus nachweisbar ist. Bekannt ist zwar, dass mit Canettis fiktionalem Werk keine unmittelbar fassbare Beschreibung vorliegt, die als solche deklariert und augenfällig wäre. Gleichwohl ist zu fragen, ob Canetti eine abstrahierende Beschreibung der gesellschaftlichen Missstände unternahm, sei diese nun bewusster oder vorbewusster Natur, ob er möglicherweise, den Anfeindungen, die von einer großen Masse der Zeitgenossen zu erwarten waren, vorbeugend, auf das Mittel der Chiffrierung zurückgriff.

Dazu verspricht diese Herangehensweise eine Antwort darauf, ob Canetti in jenen Teilen seiner Literatur, in denen – wie im Fall der Befristeten – das metaphysische Moment zu dominieren scheint, eine wertende Differenzierung zwischen Juden- und Christentum vornahm, womöglich sogar eine Unterteilung nach dem einstigen Begriffsmuster der Ost- und Westjuden, um Unterschiede in der Kulturverbundenheit, die nicht zuletzt die Religiosität betrafen, festzuhalten.

Politik: Gemäß dem Grundsatz, dass Zeiten allgemeiner Krisen zu einem vordringlichen Verlangen nach ‘Sündenböcken’ führen, erfolgte in Deutschland nach 1918 eine die Volkspsyche entlastende Legendenbildung, die an die Stelle der Eigenverantwortung die vermeintliche Schuld der politischen Gegnerschaft (der Sozialisten) und jene von ethnischen Minderheiten (vor allem eine der Juden) setzte. Jenes notwendige Bewusstsein zum eigenen Jüdisch-Sein, das sich innerhalb eines feindlich gesinnten sozialen Umfeldes auszubilden hatte, sowie auch die anschließende Exilerfahrung werfen als entscheidende Brüche im Verhältnis zum etablierten gesellschaftlichen Kollektiv die Frage auf, welche Position Canetti gegenüber den politischen Ideologien seiner Zeit einnahm.

Wissenschaften: Nicht zuletzt der Sinologe aus Die Blendung stellt einen Bezug zur akademischen Gelehrtensphäre her, die sich dem Leser variantenreich offenbart. Beachtenswert sind die Fachbereiche der Psychiatrie bzw. der Psychoanalyse, denen in Canettis Roman die Bruderfigur repräsentativ vorsteht. Allerdings gibt über Canettis Haltung, vor allem die zu Freuds Psychoanalyse, in erster Linie seine umfangreiche Autobiografie Aufschluss. Wiederholt kritisch findet sich darin der medizinische Nutzen der jungen Disziplin der Psychoanalyse hinterfragt. Die Ressentiments, die Canetti gegenüber Freuds populärer Schule hegte, lassen sich möglicherweise als weiteres Symptom eines Bruches mit der Gesellschaft lesen.

Daneben ist zu fragen, inwieweit der naturwissenschaftliche Hintergrund seiner absolvierten Chemiestudien sich in Masse und Macht, in seiner Beschreibung von gesellschaftlichen Massenphänomenen niederschlägt, inwiefern der einzelne Mensch als rein körperlicher Bestandteil deterministischer Wirkkräfte aufscheint.

Bitte senden Sie einen Entwurf Ihres geplanten Vortrages samt einigen biografischen Informationen an: Dr. Gernot Wimmer; E-Mail: ger_wimmer@gmx.at

Die Herausgabe eines Tagungsbandes ist vorgesehen.